Dienstag war ein bedeutender Abend für die Erinnerungskultur in Kempen. Nach einer intensiven und emotionalen Debatte hat der Rat beschlossen, die Wilhelm-Grobben-Straße in ihren ursprünglichen Namen Fliederstraße zurückzuführen. Ein knapper, aber historisch bedeutsamer Mehrheitsbeschluss, der zeigt, dass Verantwortung und Aufarbeitung wichtig sind.
Warum diese Entscheidung?
Die Frage, ob ein NS-Funktionär mit einem Straßennamen geehrt werden sollte, ist keine Schwarz-Weiß-Debatte. Es geht nicht um persönliche Sympathien oder die Abwägung einzelner Charakterzüge. Niemand stellt infrage, dass Wilhelm Grobben als Lyriker Werke hinterlassen hat oder dass Menschen ihn als freundlich erlebt haben.
Was jedoch ebenso unbestreitbar ist: Er war NSDAP-Ortsgruppenleiter – also der ranghöchste Nationalsozialist in Kempen – sowie Kreiskulturwart. Er hielt Vorträge, in denen er sich für die Zwangssterilisierung von Menschen mit Behinderung aussprach, und war ein Verfechter der nationalsozialistischen Rassenlehre. Diese Fakten sind durch die wissenschaftlichen Recherchen von Dr. Hans Kaiser eindeutig dokumentiert.
Und genau das ist unsere Arbeitsgrundlage.
Da es aber zeitgleich Darstellungen gibt, die seine Rolle verharmlosen oder anders interpretieren, hat sich um seine Person eine emotionalisierte Debatte entwickelt. In einer solchen Situation ist es notwendig, mit größtmöglicher Sachlichkeit vorzugehen. Deshalb haben wir uns an das NS-Dokumentationszentrum Krefeld gewandt und um eine fachliche Einschätzung gebeten. Dort wurde uns empfohlen, in Fällen dieser Art eine unabhängige wissenschaftliche Begutachtung durchzuführen, um eine sachliche Einordnung zu ermöglichen.
Aus diesem Grund haben wir am Montag einen zusätzlichen Ergänzungsantrag eingereicht, der die Beauftragung einer unabhängigen Historikerin oder eines unabhängigen Historikers vorsah. Die Fraktionsvorsitzenden der anderen Parteien wurden zeitgleich mit der Stadt darüber informiert.
Und lassen Sie mich eines betonen: Unser Ergänzungsantrag zur wissenschaftlichen Begutachtung richtete sich nicht gegen die bisherigen Recherchen von Dr. Hans Kaiser. Im Gegenteil: Wir schätzen seine Arbeit ausdrücklich und erkennen sein Engagement zur historischen Aufarbeitung an. Die zusätzliche Begutachtung sollte vielmehr dazu dienen, die Debatte zu versachlichen und die historische Aufarbeitung nach gängigem Verfahren abzuschließen.
Die wissenschaftliche Untersuchung fand im Rat jedoch keine Mehrheit. Trotz dieser Entscheidung werden wir als Fraktion weiter daran arbeiten, dass eine solche Aufarbeitung dennoch stattfinden kann. Denn Erinnerungskultur endet nicht mit einer Umbenennung. Sie braucht Ehrlichkeit und eine fundierte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit.
Die Perspektive der Betroffenen zählt
Wenn wir über Erinnerungskultur sprechen, müssen wir vor allem die Perspektiven derjenigen berücksichtigen, die unter dem NS-Regime verfolgt, entrechtet und ermordet wurden – und ihrer Nachkommen. Ein Straßenname ist nicht nur eine Adresse. Er kann für Betroffene eine direkte Konfrontation mit einer Vergangenheit bedeuten, in der Menschen wie sie als „lebensunwert“ deklariert, verfolgt und getötet wurden.
Dazu gehören unter anderem:
- Jüdische Bürgerinnen und Bürger, die durch die nationalsozialistische Rassenideologie systematisch entrechtet, deportiert und ermordet wurden.
- Sinti und Roma, die unter dem NS-Regime als „asozial“ diffamiert, in Konzentrationslagern interniert und zu Zehntausenden ermordet wurden.
- Menschen mit Behinderung, die durch das Euthanasieprogramm „Aktion T4“ massenhaft ermordet oder zwangssterilisiert wurden.
- Politisch Verfolgte, darunter Sozialdemokratinnen, Kommunistinnen, Gewerkschafter*innen und alle, die sich dem NS-Regime widersetzten und deshalb inhaftiert, gefoltert oder ermordet wurden.
- Queere Menschen, insbesondere homosexuelle Männer, die durch den §175 verfolgt, verhaftet und in Konzentrationslager deportiert wurden.
- Religiöse Minderheiten, darunter Jehovas Zeugen, die sich dem NS-Staat verweigerten und dafür inhaftiert oder hingerichtet wurden.
Wir haben bewusst das Gespräch mit Vertreter*innen dieser Gruppen gesucht: mit der jüdischen Gemeinde Krefeld, mit der queeren Community, mit Menschen mit Handicap. Die Antwort war eindeutig: Ein Hinweisschild unter einem Straßennamen reicht nicht aus. Der Name muss weg.
Eine besonders treffende Idee dazu hatte der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Krefeld, Herr Naydych. Wenn man argumentiert, dass eine Umbenennung zur Geschichtsvergessenheit führen könnte, dann könnte man es doch genau andersherum machen: Man benennt die Straße um und bringt ein Schild an, das ihre historische Vergangenheit dokumentiert. Darauf könnte stehen, dass sie einmal Wilhelm-Grobben-Straße hieß und warum sie umbenannt wurde. So bleibt die Erinnerung an die historische Auseinandersetzung erhalten – ohne, dass ein NS-Funktionär weiterhin geehrt wird. Wer sich mit dem Werk Grobbens auseinandersetzen möchte, kann das in kulturellen und wissenschaftlichen Kontexten tun, aber eine Ehrung durch einen Straßennamen ist nicht der Ort dafür.
Respekt vor den Anwohnenden, aber eine klare Entscheidung
Natürlich verstehen wir auch die Bedenken der Anwohnenden. Viele von ihnen leben seit Jahrzehnten in der Straße, verbinden schöne Erinnerungen mit dem Namen, haben dort ihre Kinder großgezogen. Und genau diese Erinnerungen bleiben.
Ein neuer Straßenname nimmt nichts von der Geschichte der Menschen, die dort leben. Aber ein belasteter Name nimmt anderen das Gefühl, sich sicher und willkommen zu fühlen.
Die Wahl eines neutralen, ursprünglichen Namens wie Fliederstraße ist ein Kompromiss, der niemandem etwas nimmt – aber vielen Menschen etwas gibt: das Zeichen, dass ihre Geschichte und ihr Schmerz ernst genommen werden.
Fazit: Ein wichtiger Schritt für Kempen
Die gestrige Entscheidung war knapp, aber sie war richtig. Geschichte aufzuarbeiten bedeutet nicht, sie zu vergessen – sondern sich bewusst mit ihr auseinanderzusetzen.
Wir danken allen, die diesen langen Weg mit uns gegangen sind, für ihre sachliche Auseinandersetzung und für den Mut, sich einer unbequemen, aber notwendigen Entscheidung zu stellen. Kempen hat gezeigt, dass Erinnerungskultur nicht nur aus Gedenken besteht – sondern aus Verantwortung.
Fliederstraße statt Wilhelm-Grobben-Straße. Ein starkes Zeichen für Demokratie und gegen das Vergessen.
Nicole Marquardt
Stadtverordnete im Namen der GRÜNEN Fraktion
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